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42. Der Fluss

 

Ullr

»Du sollst mit deiner Mama kömmen, Esmeralda!«, schrie Königin Etheldredda und zerrte Jenna in einen kleinen unbeleuchteten Tunnel gleich hinter dem Eingang zum Labyrinth. »Du sollst mit ihr kömmen, denn wir haben eine Reise nachzuholen, nicht?« Jenna konnte sich von ihr nicht losreißen, denn der Aie-Aie hatte ihr so fest den Schwanz um den Hals geschlungen, dass sie kaum genug Luft bekam, um zu gehen. Die beiden zogen sie immer tiefer in den dunkeln Gang hinein. Der Boden unter ihren Füßen war rutschig, und ein kalter Wind, der feucht nach Flusswasser roch, blies ihr ins Gesicht. Der Gang führte leicht bergab und war mit einer dünnen Eisschicht bedeckt, und da Etheldredda zudem durch den Trank gestärkt war, schlitterte Jenna praktisch hinter ihr her.

Die Dunkelheit störte Etheldredda offenbar nicht. Sie kannte den Weg, denn sie war hier oft entlanggegangen, um ihrem Sohn nachzuspionieren, und flitzte förmlich durch den Gang wie ein Eisschnellläufer. Nach etwa fünfzehn Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, glaubte Jenna fahles Mondlicht auf dem eisigen Boden zu sehen – oder graute schon der Morgen? –, und dahinter den dunklen Fluss. Augenblicke später war sie im Freien und stand mit Etheldredda und dem Aie-Aie auf einem kleinen Landungssteg ein paar hundert Meter oberhalb des Südtors. Der Fluss strömte vor ihnen vorbei, schnell, dunkel und eisig kalt. Jenna wich vor dem Wasser zurück. Der Steg war schlüpfrig, und sie wusste, dass Etheldredda nur eine Sekunde brauchen würde, um sie hineinzustoßen.

»Einstweilen bist du sicher, Esmeralda«, zischte die Königin, die sie noch immer festhielt. »Ich hab keinen Lakaien im Palast, der dich am Morgen im Wasser vorbeitreiben sehen würd. Überdies möcht ich dir ein Naturwunder unseres Landes zeigen: den bodenlosen Strudel im Finsterbach. Ich will nur unsere Barke rufen, dann fahren wir sogleich hin, denn deine Mama ist nicht so herzlos, dich noch länger warten zu lassen, wo doch ein solch Vergnügen winket.« Damit zog Königin Etheldredda eine goldene Pfeife aus einer Tasche irgendwo tief in ihren raschelnden Seidenröcken und stieß dreimal kurz hinein. Die schrillen Töne schnitten durch die eisige Luft und durchwanderten die ganze Strecke bis zum Landungssteg des Palastes, wo sie den Bootsführer der königlichen Barke weckten, der unruhig in seiner kalten Koje geschlafen hatte, deren Luke für den Fall eines solchen Rufs weit offen stand.

Doch der Pfiff rief nicht nur den königlichen Barkenführer herbei. Im Schatten des Landungsstegs kauerte NachtUllr und wartete darauf, dass seine Herrin ihn fand. Etheldreddas Pfiff schmerzte den Panther in den Ohren. Beinahe taub vor Schmerz, sprang er aus der Dunkelheit hervor und schlug Etheldredda die Pfeife aus dem Mund. Die Königin schrie vor Schreck auf. Der Aie-Aie wickelte seinen Schwanz von Jennas Hals und eilte seiner Herrin zu Hilfe. Jenna nutzte die Gelegenheit, entwand sich dem Griff der Königin und brachte sich mit einem Satz vor dem Wasser in Sicherheit.

Etheldredda rutschte auf dem vereisten Landungssteg aus. Die Krone fiel ihr vom Kopf, und sie selbst stürzte mit einem überraschend kleinen, sauberen Spritzer ins Wasser. Es gab kein Schreien, kein Kreischen, und im Nu war sie in der Tiefe verschwunden, und nur ein paar schwarze Blasen, die an die Oberfläche stiegen, verrieten, wo sie untergegangen war. Der Aie-Aie schnatterte vor Angst und huschte davon in die Nacht, und das Letzte, was Jenna von ihm hörte, waren ein paar Steine, die sich aus der Mauer lösten, als er in die Freiheit kletterte.

Ganz vorsichtig kroch Jenna zum Rand des Stegs und spähte ins Wasser. Sie konnte nicht glauben, dass Etheldredda so vollständig und ohne viel Aufhebens verschwand. Sie schaute sich um. Vielleicht schlich sich Etheldredda von hinten an sie heran, um sie ins Wasser zu stoßen. Doch da war niemand. Sie war außer Gefahr. Während die Sonne aus einem schmalen Streifen rosiger Wolken über den Ackerlanden heraufstieg, gähnte Jenna. Sie war müde und durchgefroren, und plötzlich fiel ihr ein, dass sie zwar vor der mordgierigen Etheldredda sicher, aber immer noch durch fünfhundert Jahre von zu Hause getrennt war.

»Komm, Ullr«, sagte sie, wie sie es von Snorri gehört hatte. Sie wandte sich von der aufgehenden Sonne ab, und zu ihrer Überraschung war von dem Panther keine Spur zu sehen. Im Glauben, er sei den Gang zurückgetrottet, steuerte Jenna müde auf den Eingang zu, um auf demselben Weg, den sie gekommen war, in die Kammer zurückzukehren. Denn wohin sollte sie sonst gehen?

»Miau ... miau.« Eine seltsame rote Katze mit einer schwarzen Schwanzspitze rieb sich an ihrem Bein.

»Guten Morgen, Mieze«, sagte sie, bückte sich und streichelte die Katze. »Wo kommst du denn her?«

»Miau.« Die Katze schien ein wenig ungeduldig mit ihr zu sein. »Miau.«

Und dann erinnerte sich Jenna. »Ullr«, murmelte sie.

»Miau«, antwortete Ullr. Die rote Katze lief in den dunklen und rutschigen Tunnel. Müde und durchgefroren stapfte Jenna ihr hinterher.

Im selben Augenblick, als Jenna den Landungssteg verließ, kam die königliche Barke um die Flussbiegung. Acht schläfrige Ruderer legten sich auf ihren Bänken in die Riemen, und der frierende Barkenführer klapperte mit den Zähnen und klebte mit der Hand am vereisten Ruder fest. In der Dämmerung dieses Wintermorgens bot die Barke einen schönen Anblick. Eilends entzündete Kerzen brannten hell in den Luken, der königsrote Baldachin flatterte leicht im Fahrtwind, und die goldene Bemalung glitzerte in den langen, schräg einfallenden Strahlen der aufgehenden Sonne. In der Kajüte war ein Tisch mit einem Krug heißem Glühwein und einem Teller Salzgebäck gedeckt. Um den Tisch standen bequeme Stühle, auf denen königsrote Decken und Kissen lagen. In dem kleinen Ofen in der Mitte der Kajüte brannte ein Feuer aus gut abgelagerten Apfelholzscheiten, das den Raum mit einem angenehmen und einladenden Duft erfüllte.

Doch da war niemand mehr, den man an Bord willkommen heißen konnte. Als die königliche Barke an dem verlassenen Landungssteg anlegte, konnten der Barkenführer und die Ruderer nicht ahnen, dass weit unter dem Kiel, vom Gewicht der großen schwarzen Röcke tief hinabgezogen und nur Zentimeter über dem schlammigen Grund des Flusses, der reglose Körper Königin Etheldreddas trieb.

Septimus Heap 03 - Physic
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